rauschen 1
die uhr tickt. in ihren leisen, stetigen marsch mischen sich die klickergeräusche der stricknadeln, manchmal das schaben eines groben wollfadens an marthas schwieligen händen und das knistern der plastiktüte, wenn sie >den faden nachzieht. sie lauscht, sortiert gedanken. malte ist heimgekehrt. gestern, irgendwann in der nacht, stand er vor der tür, klopfte nicht, läutete nicht, stierte nur vor sich hin. davon muß ich aufgewacht sein, denkt sie, von seinem stehen und stieren. niemand rechnete damit, ihn wiederzusehen. von dort, wo man ihn hingeschickt hatte, kam keiner zurück. er ließ sich nicht umarmen, ging an ihr vorbei, legte sich aufs sofa und schlief. gegen mittag stand er auf und holte aus seinem seesack ein uraltes bandoneon hervor. damit ging er in die kirche nebenan. seitdem, seit über drei stunden, spielt er. falls man das spielen nennen kann, denkt martha und läßt die nadeln sinken. hoffentlich findet er einen, dem er alles erzählen kann. nur mir nicht, bitte nicht mir...
musik: >uNice
text zur musik: >eukapirates
traum des jünglings von der fremde
trägt rot von kopf bis fuß, und ich dachte, das hieße leidenschaft. trägt schwarz von kopf bis fuß, und ich dachte, das hieße trauer. trägt weiß von kopf bis fuß, und ich dachte, das spräche von reinheit und jugend. hebt das weiße tuch vom gesicht. die augen geschwollen, die wangen rot vom salzbrand der tränen, greift nach meiner hand. komm, sagt sie. heut nacht ist er gestorben, und führt mich zum grab ihres vaters. hebt das schwarze tuch vom gesicht. die augen leuchten, an ihren ohren hängt schweres geschmeide aus gold und perlen. komm, sagt sie. die ältesten sind versammelt für den segen. wir wollen uns für’s leben binden. hebt das rote tuch vom gesicht. leuchtet von innen aus jeder pore. schweigt. schweigt, und ich schaue und warte. ich trage dein kind, sagt sie. und verschwindet wieder zu den frauen.
text >eukapirates / zehn zeilen
musik >uNice (komposition zu traum des jünglings von der fremde von eukapirates)
allerweltsbild in der zeitung
er ist elf, vielleicht zwölf. er ist im besitz eines schmächtigen körpers und schütterer haare. er zählt noch drei eckzähne sein eigen. weil er so klein ist, rufen die anderen ihn oft mit mädchennamen. er stört sich nicht mehr daran, läuft durch häuserschacht- schatten, in >windkanälen zwischen den wohnsilos. den kopf hält er gebeugt, die augen weit offen. ein beutel hängt ihm quer über die schultern. er klaubt dinge vom boden, sammelt sie darin. manche wird er später zu geld machen. ein hund rennt auf ihn zu, bellt laut. der junge geht einen schritt, tritt aus dem foto, hebt den blick. sein lachen füllt das gesamte gesicht aus, das er dem hund jetzt entgegenstreckt. sie laufen um die wette. >später trifft er die anderen unten am hafen. sie lachen viel. sie teilen das essen. der hund schläft an seiner seite.
musik uNice
text eukapirates zu traum III
twain revisited
in stetem wachstum begriffene stalagmiten wohin sie sah, und diffuses licht aus einer unerkannten quelle. während sie sich in dieser hellblauen und braunen und rosig schimmernden welt umschaute, stellte sie fest, daß sie schwebte. höchstens drei fuß- breit hoch, aber eben doch eindeutig über dem boden, und tatsächlich war es eher ein gleiten, als ein schweben. die luft um sie her war erfüllt vom unregelmäßigen fall- klang hunderter oder tausender tropfen. sie hatte diesen traum schon oft geträumt. keine seiner wiederholungen hatte je sinnstiftend gewirkt. ein traum ohne bedeutung, in dem sie sich, sobald sie ihn erkannte, hauptsächlich langweilte. daß sie ihn dennoch gern träumte, lag an einer kindheitserinnerung: am nächsten morgen nämlich, erwachte sie jedesmal mit einem vergnügten gedanken an huckjim huckleberry und jim in jones' höhle.
musik >uNice
text >eukapirates zu traum II
fensterversuchung
eine wolke vor meinem fenster, die mir sämtliche sicht versperrt. seit einem jahr hängt sie dort nahezu ununterbrochen, läßt sich nur kurz mal fortpusten, kehrt aber unweigerlich und bald wieder zurück. ich habe also verhandlungen aufgenommen, wolke-mensch-verhandlungen sozusagen. die welt langweile sie, erklärte mir die wolke, viel lieber sähe sie in mein fenster hinein. im gegenzug für einen solchen verzicht, müsse ich schon einiges bieten. schließlich einigten wir uns auf meinen garten. neben dem balkon darf sie sich jetzt niederlassen wann immer sie will und – das ist neu – gründlich ausregnen, täglich von sechs bis acht am morgen, wenn ich noch schlafe. zur zeit hält sie sich daran. gestern nacht habe ich sie aber dabei ertappt, wie sie kurz um die ecke lugte. es scheint, mein fenster bleibt ihre versuchung.
text >eukapirates / zehn zeilen
musik >uNice (komposition zu fensterversuchung von sudabeh mohafez)
vergrößert
er geht den kreis rückwärts. schritt für schritt und ohne sich umzusehen. er geht ihn einmal, zweimal. beim siebten mal tritt er daneben. nur mit einem fuß. kein fall in besondere tiefen, ein rhythmusfall eher. ein einzelner fehltritt aus dem metrum heraus. einer, der eben nicht auf dem im sand deutlich gezogenen kreis landet, sondern zwei fußbreit daneben. immer noch schaut er in den himmel, tastet aber jetzt mit dem fehltrittfuß den boden ab. plötzlich beginnt er wieder zu gehen, rückwärts, wie gehabt. den linken fuß auf dem kreis im sand. den rechten zwei fußbreit daneben, stetig, im takt. in einem neuen takt. er hat seinen raum >vergrößert, flüstert ein vorwärtsgeher. dann hält er sich die hände vor den mund. dann sieht er zu boden. dann setzt er den einen fuß mit angehaltenem atem zwei fußbreit nach links und geht.
text >eukapirates / zehn zeilen
musik >uNice (komposition zu vergrößert von eukapirates)
wieder holen
der strich ist weiß auf dunklem grund und gebogen, eher elliptisch als kreisrund. er verliert sich weiter vorn >im nebel. ich drehe mich um: der strich ist weiß auf dunklem grund und gebogen, eher elliptisch als kreisrund, und verliert sich weiter hinten im nebel. ich laufe auf dem strich entlang. machmal drehe ich mich um und laufe in die entgegengesetzte richtung. ich setze einen fuß vor den anderen auf den strich und die biegung und der nebel und der grund und die füße und der strich und die biegung und der nebel. manchmal höre ich stimmen, dringen gerüche an meine nase, kommt es mir vor, als zögen bilder rechts und links vorbei, dann holt mich der strich wieder oder ich hole ihn und setze einen fuß vor den anderen und laufe auf dunklem grund >tendenziell elliptisch richtung nebel.
text >eukapirates / zehn zeilen
musik uNice (komposition zu wieder holen von eukapirates)